Donnerstag, 10.03.2022, 09:00 Uhr
Ukrainische Frauen und Kinder: Im Feriendorf Altes Land sind sie in Sicherheit
Von Björn Vasel/ Tageblatt https://www.tageblatt.de/
Mehr als zwei Millionen Ukrainer sind laut UN-Flüchtlingshilfswerk seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf der Flucht. Sechs von ihnen sind vorerst im Feriendorf Altes Land in Hollern-Twielenfleth untergekommen. „Wann kommt Papa?“, fragte der dreijährige Gordey kurz nach der Ankunft.
Als die ersten russischen Kriegsflugzeuge über Dnipro kreisten, packten sie ihre Koffer und flüchteten in Richtung Westen. Die viertgrößte Stadt der Ukraine liegt am Dnjepr. Die Front rückt näher. Südlich der Millionenstadt liegt, lediglich 200 Kilometer entfernt, das größte Atomkraftwerk Europas: Saporischschja. Nach einem Artillerieangriff haben die Russen die Anlage eingenommen. Dass der russische Präsident Wladimir Putin selbst das Risiko einer atomaren Katastrophe in Kauf nimmt, das erfüllt die Ukrainerinnen Ohla Filatova, Svetlana Filatova, Tkatsch Ekaterina und Dumma Vladislava mit großem Entsetzen. „Nukleare Verseuchung kennt keine Grenzen“, sagt Ohla Filatova (26).
Männer bleiben in der Ukraine zurück
Die vier waren Anfang März mit den Kindern Kiryl (8) und Gordey (3) geflohen. Die Männer und viele Verwandte blieben zurück. Alle männlichen Ukrainer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren sind zu den Waffen gerufen worden und dürfen das Land nicht verlassen. Der überfüllte Flüchtlingszug von Dnipro nach Lwiw (Lemberg) war 25 Stunden unterwegs. Sie hatten Glück. Nur drei Stunden hätten sie in der Schlange an der Grenze nach Polen ausharren müssen. Doch andere hätten vor ihrer Ausreise tagelang in der Kälte im Auto warten müssen. Sie hätten ihre Heimat „gerade noch rechtzeitig verlassen“. Russische Truppen schössen auch auf flüchtende Zivilisten und griffen Konvois mit Bussen und Pkw an. „Eine Flucht ist jetzt schwierig, nahezu unmöglich“, sagt Dumma Vladislava (25). Nicht nur an der Front lauerten Heckenschützen.
Auch in Polen seien sie mit großer Warmherzigkeit empfangen worden, 1,3 Millionen Ukrainer haben bereits Zuflucht im Nachbarland gefunden. Die Unterkünfte seien überfüllt. Und so machten sie sich schließlich – unterstützt von freiwilligen Helfern aus Polen und Deutschland – auf den Weg. Der ehemalige BSV-Bundesliga-Handballtrainer Leszek Krowicki – aktiv in der Ukraine-Hilfe – holte die Gruppe mit einem Freund mit zwei Pkw ab. Über einen guten Bekannten konnte er nach einem Anruf bei Bürgermeister Timo Gerke am späten Sonntagabend die Ukrainer im Feriendorf Altes Land unterbringen. Das Unternehmen „half sofort“, dankt der Samtgemeindebürgermeister. Eltern aus einer Kita-Gruppe spendeten einiges an Spielzeug.
Ganze Straßenzüge sind zerbombt
„Putin hat uns unser Leben und unsere Träume gestohlen“, sagt Ohla Filatova. Sie wüssten nicht, was die Zukunft bringt. Immer wieder öffnen sie ihre Smartphones – und schauen auf die Fotos von Freunden und Familienangehörigen, auf Nachrichtenportale und Social-Media-Kanäle. „Charkiw ist meine zweite Heimat“, sagt Filatova. Ganze Straßenzüge seien zerbombt. Beim Scrollen hält sie inne. „Das Haus kenne ich“, sagt die 26-Jährige. Es ist eine Ruine.
Sie hätten viel Schreckliches gehört, ihre Verwandten und ihre Bekannten verließen die Bunker und die Keller nicht mehr – aus Angst um ihr Leben. Ihre Wohnungen liegen in Trümmern, Wasser und Lebensmittel werden knapp, berichtet sie. Der Tod sei allgegenwärtig. Sie müssten sich immer wieder an den Kopf fassen: „Das ist kein Kino.“
Sie hätten nicht nur aus Sorge um ihr Leben ihr Land verlassen, die wenigen Ressourcen würden für die Kämpfer und die Ärzte und Schwestern benötigt. „Sie werden bis zum Ende kämpfen. Es wird Putin nicht gelingen, uns zu besiegen – selbst, wenn er das ganze Land erobert hat“, sagt die Ukrainerin. Hoffnung, dass der Westen den Vormarsch mit seinen Sanktionen stoppen kann, haben sie nicht. „Wenn er nicht stirbt, wird ihn vielleicht keiner mehr aufhalten können“, ergänzt Svetlana Filatova. Dass möglicherweise die Russen selbst ihn stürzen, glauben sie nicht. Moskau habe zwölf Millionen Einwohner. Lediglich 2000 hätten mutig gegen den Krieg demonstriert. Die Mehrheit glaube der Propaganda und stehe hinter Putin, der eingeschüchterte Rest habe Angst vor Verhaftung.
Bilder des Schreckens auf dem Smartphone.
Rückbesinnung auf die ukrainische Kultur
Stolz mache sie, dass ihr Volk jetzt gemeinsam kämpft. Auch Mütter kämpfen, werfen Mini-Drohnen mit Tomatengläsern ab, stoppen Panzer mit Molotowcocktails, sagt Ohla Filatova. „Putin hat das Gegenteil von dem erreicht, was er wollte: Er hat uns geeint.“ Der Aggressor im Kreml stärke die Rückbesinnung auf die ukrainische Kultur und Sprache: „Wie Ukrainer sind jetzt alle wie Brüder und Schwestern. Putin kann die Bauten zerstören, nicht aber unsere Nation.“ Europa helfe. Dafür seien sie „sehr dankbar“. Die Helfer der vergangenen Tage hätten sie mit großer Herzlichkeit aufgenommen. Sie seien in Sicherheit – und trotzdem täglich in großer Sorge um die Daheimgebliebenen.
Sie, Tkatsch Ekaterina (32) und auch Dumma Vladislava wollen arbeiten. Sie wollen dem deutschen Staat nicht zur Last fallen, sondern helfen, Widerstand und humanitäre Hilfe zu finanzieren. „Wenn wieder Frieden ist, wollen wir unser Land wiederaufbauen“, sagen sie. „Wie lange wir hierbleiben werden, wissen wir nicht“, sagt Ohla Filatova. Und auch nicht, wann der dreijährige Gordey seinen Vater wiedersehen wird.
Spendenkonto
Der Lions Club „Das Alte Lan
d“ stellt für die Aktion der Samtgemeinde Lühe „Hilfskonvoi in die Ukraine“ das Konto seines Hilfswerks zur Verfügung. Empfänger: Lc Hilfswerk Altes Land; IBAN: DE46 2415 1005 1210 2684 11; Spendenbescheinigungen werden ab 100 Euro ausgestellt. Mitinitiatorin Dzvenyslava Diichuck will Kaufbelege als Nachweis vorlegen.